Ergebnisse der 32C3-Arbeitssitzung
Die Arbeitssitzung auf dem 32. Chaos Communication Congress (32C3) bestätigte die flexible Vernetzung als geeignete Organisationsform für die Bewegung gegen Überwachung und entwickelte Ideen für Angebote, mit denen die Bewegung weiter gestärkt werden kann.
Bisherige Organisationsformen der Bewegung gegen Überwachung
Im ersten Teil der Sitzung wurden die Erfahrungen aus den bisherigen Organisationsformen erörtert. Nach den großen Protesten gegen die Volkszählung in den 1980ern erlebte die Bewegung 2007 bis 2009 eine neuerliche Hochzeit. Damals prägte der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung, kurz AK Vorrat, die öffentliche Wahrnehmung. Doch diese monolithische Organisationsform ging ab 2009 wieder verloren, als sich nach und nach leistungsfähige Mitstreiter verabschiedeten und starke Ortsgruppen verselbständigten. Als Gründe dafür wurden genannt,
- dass einzelne Akteure als zu dominierend empfunden wurden,
- dass die Transparenz und Nachvollziehbarkeit von einzelnen Entscheidungen vermisst wurde und
- dass der Zwang zur Konzentration auf das eine Spezialthema als einengend empfunden wurde.
Der Vorteil dieser Organisationsform besteht darin, dass die eine bekannte “Marke” mit ihrem Anliegen in der Öffentlichkeit viel stärker wahrgenommen wird und auch potentiellen Aktivisten oder Spendern eine direkte Anlaufstelle bietet und damit ein Engagement wesentlich erleichtert. Die Ressourcen werden für das eine Ziel gebündelt und können schlagfertig eingesetzt werden. Nachteilig ist der Verlust von Eigeninitiative (“Der AK Vorrat müsste eigentlich mal …”) und die damit einhergehende Abhängigkeit der gesamten Bewegung von den dominierenden Aktivisten dieser einen Organisation. Zusammen mit den offenen Strukturen bietet diese Organisationsform letztlich sogar ein billiges Einfallstor für einen Geheimdienst, der Einfluss auf die Bewegung nehmen will.
2014 gab es dann den Versuch, ein dauerhaftes “Bündnis gegen Überwachung” zu schmieden aus den inzwischen zahlreichen unterschiedlichen Gruppen, die gegen Überwachung arbeiten. Deren Zusammenarbeit, wie sie für die Organisation der Freiheit statt Angst-Demonstration bereits stattgefunden hatte, sollte auf eine dauerhafte Basis gestellt werden. Tatsächlich ist dieser Versuch nie über eine (inzwischen wieder verwaiste) Mailingliste zur Koordination der Gründungsbemühungen hinausgekommen. Die Gründe für das Scheitern waren
- sehr unterschiedliche Vorstellungen über die konkrete Ausgestaltung des zu gründenden Bündnisses,
- keine Einigung auf Koordinations- und Entscheidungsmechanismen in der neuen Struktur und
- nicht zuletzt die Konkurrenz um die öffentliche Aufmerksamkeit und damit das Spendenaufkommen, die stets als unvermeidbares Konfliktpotential bei jeder Form von Zusammenarbeit besteht.
Die Vorteile eines engen Bündnisses für die gemeinsame Sache liegen auf der Hand: Koordiniertes Vorgehen vermeidet Doppelaufwand, bietet Synergien und ermöglicht, größere Ressourcen konzentriert einzusetzen. Es entstünde wieder eine bekannte “Marke”, die in der Öffentlichkeit viel stärker für das gemeinsame Anliegen auftreten kann als jeder Bündnispartner allein. Nachteilig an dieser zentralistischen Organisationsform wäre, dass (je nach Ausgestaltung der Entscheidungsmechanismen) durch die zwingende Beteiligung vieler oder gar aller Bündnispartner eine Trägheit bis hin zur Blockade (im Falle des Konsensprinzips) aufkommen kann.
Was bleibt, ist eine zersplitterte Landschaft aus unterschiedlichen Bürgerrechtsgruppen, die sich mal mehr und mal weniger koordiniert gegen Überwachung engagieren. Ein Beispiel für eine wiederholte Aktion, bei der viele Gruppen ohne zentrale Koordination zusammenwirken, ist das Lesen gegen Überwachung. Charakteristisch für diese flexible Vernetzung sind
- dezentrale Initiativen in Eigenregie ohne lähmende Abstimmungsprozesse,
- dezentrale Aufrufe zum Mitmachen und dezentrale Entscheidungen über eine Teilnahme,
- dezentrale Unterstützungsangebote und dezentrale Entscheidungen über deren Inanspruchnahme.
Die Vorteile dieser verbleibenden Organisationsform der flexiblen Vernetzung sind, dass die Eigeninitiative bei den Gruppen erhalten bleibt und ein Wettbewerb von Ideen entstehen kann. Kreative Aktionsformen werden ungebremst ausprobiert, ohne dass frustrierende Überzeugungsarbeit bei einem zentralen Gremium geleistet werden muss. So setzen sich die erfolgreichen Initiativen mit der meisten Aufmerksamkeit durch und verbreiten sich wie ein Lauffeuer. Im besten Fall verleiht das der Bewegung eine gewisse Unberechenbarkeit, die insbesondere Gegenstrategien schwierig macht. Überhaupt wäre eine Kontrolle dieser Organisationsform durch einen Geheimdienst maximal ressourcenintensiv. Er könnte die Bewegung jedoch schwächen, indem er sie unter Ausnutzung divergierender Nebenaspekte in zwei Lager spaltet (beispielsweise nach dem bewährten links/rechts-Schema). Die Nachteile dieser Organisationsform bestehen in der Zerstreuung von Ressourcen und doppeltem Aufwand bei mangelnder Absprache. Auch fehlt hier die große, bekannte “Marke” sowohl für den einprägsamen Auftritt in der Öffentlichkeit als auch als niederschwellige Anlaufstelle für alle, die sich ein Engagement gegen Überwachung vorstellen können.
Ideen für weitere Angebote zur Stärkung der Bewegung
Im zweiten Teil der Sitzung ging es darum, welche Infrastruktur die Bewegung stärken kann. Welche Unterstützungsangebote können die Vorteile der flexiblen Vernetzung am besten ausschöpfen und ihre Nachteile minimieren?
Austausch über Initiativen
Es gibt Bedarf an einem informellen Raum, der dem ungezwungenen Austausch unfertiger Dinge zwischen den Gruppen dient, beispielsweise für eine Umfrage nach dem prinzipiellen Interesse an einer etwaigen Aktion. Eine bessere Kommunikation zwischen den Gruppen würde auch ärgerliche Kollisionen vermeiden helfen, wenn sich beispielsweise zwei ähnliche Kampagnen mangels Absprache zeitlich überschneiden, wie es bereits vorgekommen ist. Mit der “Bündnis”-Mailingliste (siehe oben) gab es bereits einen ersten Anlauf dazu: Obgleich die Mailingliste mit dem Zweck aufgesetzt worden war, darüber die künftige Bündnisstruktur zu diskutieren, wurde sie zwischenzeitlich zum Ideenaustausch zwischen den Gruppen verwendet. Bei freiem Zugang für jeden, Themenbeliebigkeit und ohne Redaktion war das Nachrichtenaufkommen aber gerade zu Beginn viel zu hoch. In einem zweiten Anlauf wurde die einfache Mailingliste daraufhin übertragen auf Discourse, einer technologisch komplexeren Mailingliste mit Eigenschaften eines Forums. Die neue Technologie konnte jedoch die Gruppen nicht richtig erreichen (der Einarbeitungsaufwand ist eine Hürde) und dient inzwischen hauptsächlich nur noch der Zusammenarbeit für ein aktuelles Projekt.
So wurden in der Sitzung Ideen für alternative Realisierungen des informellen Raumes vorgeschlagen, unter anderem einen Newsletter als redaktionell betreutes Angebot. Ein Mitstreiter, der die Aktivitäten in den unterschiedlichen Gruppen verfolgt, könnte darüber regelmäßig und vor allem prägnant berichten. Alternativ könnte eine Redaktion als Sammelstelle auftreten, der die Gruppen von sich aus berichten, und die dann regelmäßig die Meldungen zusammenfasst.
Zukünftige Versuche, einen informellen Raum zum Austausch für die Bewegung zu errichten, werden also diese Zielkonflikte berücksichtigen müssen: Intuitive Handhabung vs. Funktionalität, begrenztes Nachrichtenaufkommen vs. Themenvielfalt, freier Zugang vs. redaktionelle Betreuung.
Erfahrungsaustausch und persönliche Vernetzung
Neben dem zeitnahen Austausch über aktuelle Vorgänge benötigt die Bewegung (vor allem bei Wachstum) auch einen Erfahrungsaustausch. Aus technischer Sicht kam der Vorschlag eines gemeinsamen Wikis, mit dem Erfahrungen und Tipps gesammelt und verbreitet werden können. Damit es von der Bewegung angenommen und der Aufwand der Pflege auch tatsächlich erbracht wird, muss seine Nützlichkeit hinreichend wahrgenommen werden.
Größere Bedeutung wurde physischen Treffen beigemessen. Hier können nicht nur Erfahrungen ausgetauscht werden, sondern auch persönliche Beziehungen geknüpft werden: Vertrauen zwischen den Mitstreitern und ein direkter Draht sind essenziell für eine engere Zusammenarbeit der Gruppen und gemeinsame Projekte. Momentan gibt es bereits zwei derartige Zusammenkünfte im Jahr: Zum einen bietet der Chaos Communication Congress eine Möglichkeit zum gegenseitigen Kennenlernen und einzelne Vorträge vor großem Publikum präsentieren dort auch Aktionen gegen Überwachung. Doch Erfahrungsaustausch in kleiner Runde oder kreative Arbeitssitzungen zum Thema Überwachung finden hier (noch) kaum statt. Zum anderen versammeln sich an einem verlängerten Wochenende auf dem AKtiVCongrEZ, ausgerichtet von Digitalcourage, einige Dutzend Mitstreiter und entwickeln zusammen Projekte unter anderem gegen Überwachung. Da diese beiden Treffen eng aufeinander folgen, war die Frage, ob nicht noch ein Sommertreffen angebracht wäre. Das Angebot, den AKtiVCongrEZ häufiger als einmal im Jahr durchzuführen, wurde aber angeblich nicht angenommen. Interessant ist auch noch ein ganz anderer Vorschlag, Begegnungen für die Bewegung zu gestalten: So könnten sich Delegierte der Gruppen jährlich in kleinerer Runde treffen und beispielsweise drei Veranstaltungstermine mit bestimmten Themenschwerpunkten festlegen und vorbereiten, zu denen sich die Bewegung dann als ganzes trifft.
Öffentlich wahrnehmbares Auftreten der Bewegung
In Abgrenzung zum informellen Raum zur internen Kommunikation (siehe oben) gibt es auch den Bedarf an einer gemeinsamen formellen Kommunikation fertiger Ergebnisse aus der Bewegung heraus an die Öffentlichkeit, beispielsweise die Einladung zu einer Veranstaltung. Dieser Punkt wurde in der Sitzung nicht tiefer diskutiert.
Neue Mitstreiter gewinnen
Ein interessanter Vorschlag war, dass neue Mitstreiter bei Bürgerrechtsorganisationen gefunden werden könnten, die bisher (noch) nicht oder nur am Rande gegen Überwachung arbeiten. Kontakte könnten entweder bei einer gemeinsam ausgerichteten Veranstaltung geknüpft werden oder indem die Organisation gebeten wird, ihre Mitglieder auf eine Veranstaltung oder eine Aktion zum Mitmachen aufmerksam zu machen. Auch wenn die Organisation die Veranstaltung nicht selbst mit ihrem Namen unterstützt, würde sie dennoch die Veranstaltung über ihre Verteiler in ihren Reihen bekannt machen, wenn sie davon ausgeht, dass das Thema viele interessieren wird.
Im übrigen scheint der Aufbau von Ortsgruppen zu diesem Thema eher schwierig über die Ferne erreichbar zu sein, selbst wenn weiterhin Überwachungs- und Geheimdienstskandale die Schlagzeilen beherrschen. Dafür wäre wohl so etwas wie ein umher reisender “Missionar” und eine starke, positive “Vision” vonnöten.
Abgeschottete Gemeinschaften überwinden
Das Motto des Kongresses hieß passenderweise gated communities, also abgeschottete Gemeinschaften – die es selbstverständlich zu überwinden gilt! Das muss sich auch die Bewegung gegen Überwachung stets vor Augen halten: Zunächst heißt das, über den Horizont der eigenen Gruppe hinaus zu blicken. Aber wir müssen auch wachsam sein, dass keine politische Seite die Bewegung vereinnahmt, Teile ausgrenzt und so die gesamtgesellschaftliche Ausrichtung zerstört. Anstatt dass das gesamte demokratische Spektrum in dieser zentralen Frage zusammenhält, wäre es dann in zwei Lager gespalten und geschwächt. Die Friedensbewegung hat derartiges erlebt, wie ein Teilnehmer in der Sitzung warnte. Denken wir also immer daran: Vielfalt, Toleranz, Einigkeit